Haus im Schluh

Worpswede

Martha Vogeler - Vita

 

1879

Martha Schröder wird am 9. Oktober in Worpswede als neuntes von zehn Kindern des Dorfschullehrers Diedrich Schröder und seiner Ehefrau Becka, geb. Kohlmann (1843-1917), geboren.

1894

Im Mai hält sich Heinrich Vogeler (1872-1942) erstmals in Worpswede auf. Er schließt sich der dortigen Künstlergruppe um Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Hans am Ende, Fritz Overbeck und Carl Vinnen an. Vogeler wird rasch als Maler, Zeichner, Druckgraphiker, Illustrator, Architekt und Designer des Jugendstils bekannt. Der 22-jährige Vogeler begegnet der 14-jährigen Martha Schröder erstmals während eines Spazierganges mit den Künstlerkollegen am Weyerberg: „… ein hell-gekleidetes, schlankes blondes Mädchen mit hängendem Zopf … Auf der Hand trug es eine zahme Elster. Vierzehn Jahre alt mochte es sein. … Das muß Martha Schrö­der sein, die jüngste Tochter der alten Lehrerswitwe, fühlte ich sofort“ (H. Vogeler, Werden. 1989, S. 32).

1896

Bei regelmäßigen Besuchen auf dem Barkenhoff – diesen gestaltete Heinrich Vogeler nach und nach aus einem einfachen strohgedeckten Bauernhaus zu einer ‚Insel der Schönheit’  – steht Martha dem Künstler Modell. Nach seinen Entwürfen führt sie Stickereien und Applikationen aus. 1897 erhält sie für einen Wandbehang, der in der Gemeinschaftsausstellung der Worpsweder in Dresden mit ausgestellt wird, 600 Goldmark. Mit diesem Geld richtet sie sich ihr erstes eigenes Zimmer im Haus der Mutter ein.

1897

Vogeler stellt Martha auf dem Gemälde Frühling dar (das große Jugendstilbild ist im Haus im Schluh in Marthas Wohnhaus zu sehen).

1899

Martha ist zu Gast bei der Familie Konsulin Chrambach in Dresden. Sie bildet sich aus in Sprachen, Musik und Kunst. Heinrich Vogeler unterstützt sie mit 50 Mark im Monat. Sie fertigt textile Kunstwerke nach seinen und eigenen Entwürfen und erhält Anerkennung in „Deutsche Kunst und Dekoration“ von 1899: „Für applizierte und andere Stickereien wußte Vogeler die Hand einer künstlerisch nachfühlenden Dame, Frl. Martha Schröder, in Worpswede zu gewinnen.“

1900

Rainer Maria Rilke hält sich im Sommer als Gast auf dem Barkenhoff auf und schreibt sein Gedicht „Die Braut“, das er Martha widmet. Heinrich Vogeler lebt vorwiegend in München und Meißen. Im Oktober verloben sich Martha und Heinrich Vogeler in Meißen. Ende des Jahres kehrt Martha aus Dresden nach Worpswede zurück.  In der Zeit um 1900 ist der Barkenhoff Treffpunkt zahlreicher Künstler, Musiker und Dichter, darunter auch die Künstlerinnen Paula Becker und Clara Westhoff.

1901

Am 6. März heiraten Martha Schröder und Heinrich Vogeler in der alten Feldstein-Kirche von Heeslingen bei Zeven. Martha zieht zu Heinrich Vogeler auf den Barkenhoff und richtet sich unter dem Dach der Wagenremise ein eigenes Atelier ein. Am 23. Dezember wird die Tochter Marie-Luise (genannt Mieke) geboren. Mieke Vogeler wird später als Goldschmiedin, Grafikerin und Malerin tätig sein; sie lernt 1928 den Schriftsteller Gustav Regler kennen, mit dem sie 1933 Deutschland vor den Nazis nach Paris flieht. Mieke stirbt 1945 in Mexico.

1903

Am 4. August Geburt der Tochter Helene Bettina. Sie wird später im Haus im Schluh gemeinsam mit Ihrem Ehemann, dem Künstler Walter Müller (1901-1975) eine Bildweberei betreiben. Bettina stirbt 2001 im Schluh.

1905

Martha und Heinrich Vogeler unternehmen gemeinsam mit seiner Schwester Marie, mit Otto Modersohn und Milly Becker, der Schwester Paula Modersohn-Beckers, eine Reise nach Paris, um Paula zu besuchen. Sie sehen u. a. die Arbeiten von Gauguin, van Gogh, Seurat und Matisse.

Am 7. Dezember kommt in Worpswede die dritte Tochter, Martha (genannt Mascha) zur Welt. Mascha wird eine Ausbildung als Weberin für Gebrauchstextilien absolvieren. Sie stirbt 1993 in Worpswede.

1907

Martha und Heinrich Vogeler erleben eine Ehekrise. Zudem stagniert der künstlerische und wirtschaftliche Erfolg Vogelers. 

1909

Beginn einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung Marthas zu Ludwig Bäumer, der als Gast auf den Barkenhoff gekommen war. Später (1922) heiratet er Romaine Wagenseil. Bäumer stirbt am 28. August 1928 durch Selbstmord in Berlin.

1910

Gemeinsam mit Heinrich Vogeler nimmt Martha an der Brüsseler Weltausstellung teil und stellt dort in der Vorhalle ihre  „Binsen- oder Flechtmöbel“ aus; Verandamöbel, für die sie seit 1908 einen Musterschutz besitzt.

1913

Letzte Gemälde Heinrich Vogelers mit Martha entstehen: ‚Frühlingssonne’, großes Porträt Marthas mit Blick auf die Barkenhoff Insel und ‚Frühling’.

1914

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldet sich Vogeler aufgrund seiner persönlichen Situation als Freiwilliger zum Kriegsdienst. - Die Ehe Vogelers mit Martha war seit 1913 „physisch getrennt“ - wie Martha sich später ausdrückte. „In eine räumliche Tren­nung mochte Heinrich Vogeler nicht einwilligen – er bat, die Gemeinschaft kameradschaftlich weiter zu behalten mit den Kindern“ (Notiz MV, undatiert).

1915

Reger Briefwechsel mit Heinrich Vogeler über seine Kriegsstationen. Martha erledigt immer wieder Aufträge für ihn, lässt in Bremen bei Ausmeyer & Gerlink Gemälde rahmen, schickt ihm gewünschte Farben, Pinsel und Pappen etc. Martha richtet eine ‚Webschule’ im Barkenhoff ein und schafft erste Webstühle an. Sie will vor allem Bauernmädchen und anderen, denen es Freude macht, das Weben vermitteln. Eine Weberin der früheren Bildwebschule Scherrebek gibt Martha und den Töchter  Unterricht. Dadurch wird die tradierte Bauernweberei um die Bildweberei ergänzt. Die wirtschaftliche Situation ist düster.

1917

Heinrich Vogeler kehrt aus seinem Heimaturlaub zu Weihnachten nicht mehr zum Militär zurück. Seine Kriegserlebnisse haben ihn desillusioniert und zum konsequenten Kriegsgegner gemacht.

1918

Am 20. Januar verfasst Vogeler seinen eindringlichen und umfassenden Friedensappell: Das ‚Märchen vom lieben Gott’ oder ‚Der Brief an den Kaiser’, der seinem ‚Protest gegen den Brest-Litowsker Gewaltfrieden’ Ausdruck verleiht. Er wird daraufhin festgenommen und in die Psychiatrie in Bremen eingeliefert. Nach seiner Entlassung gründet er eine kommunistische Arbeitsgemeinschaft auf dem Barkenhoff. Mit entlassenen Kriegsgefangenen, politisch engagierten Intellektuellen und Arbeitern, die an dem neuen Modell des Zusammenlebens teilhaben wollen, teilt er sein Haus und Land. Im November beteiligt sich Martha an den Aufrufen für ein Frauenwahlrecht; in ihrer Wohnstube wird eine ‚Volksbibliothek’ eingerichtet.

1919

Martha zieht mit ihren Töchtern in den hinteren Teil des Barkenhoffs. Den vorderen Teil des Hauses und die Remisen beherbergt die von Vogeler ins Leben gerufene Arbeitskommune.Durch Vermittlung von Emil und Selma Löhnberg, Freunden Heinrich und Martha Vogelers, erwirbt der jüdische Kaufmann Paul Lehmann, Teilhaber der Duisburger Getreide und Futtermittelfirma Amberg & Klestadt, für Martha ein großes Grundstück im Schluh. Er stellt vom November 1919 bis zum Herbst 1920 eine Geldsumme von 95 000 M für den Kauf des Geländes „Im Schluh“ zur Verfügung (Notiz MV, undatiert). Hier lässt Martha Vogeler ein niedersächsisches Bauernhaus wieder errichten, das sie in Lüningsee „auf Abbruch“ erworben hatte. Die Schulden werden mit dem Verkauf von Gemälden beglichen.

1920

Martha Vogeler zieht mit ihren drei erwachsenen Töchtern in das „Haus im Schluh“. „Nehmt was ihr braucht, um ein neues Leben aufzubauen, sagte ich. Ein Bett, den Bechsteinflügel von Löhnberg und einen Bücherschrank lasst mir“, schreibt Heinrich Vogeler über Marthas Auszug aus dem Barkenhoff (HV, Werden, S. 240). Neben dem Wohnhaus erbaut sie ein kleines Wirtschaftsgebäude, in dem die erste Webwerkstatt ihren Platz bekommt. Martha richtet die Räume ihres neuen Hauses mit den Möbeln, den Gemälden und dem schönen Inventar des Barkenhoffs ein, das bereits viele antike Bauernmöbel und Truhen beinhaltet. Sie widmet sich dem Erhalt der Heinrich-Vogeler-Sammlung und sammelt aus Liebhaberei „regionale Altertümer“, darunter auch Steinäxte und Versteinerungen von den Worpsweder Äckern. Mit dem Aufbau einer Handweberei, Vermietung von Gästezimmern und dem Handel mit Kunst und Kunstgewerbe schaffen sich die vier Frauen eine wirtschaftliche Basis. Mieke hat Kunst studiert und eine Silberschmiedelehre abgeschlossen, Bettina webt Bildteppiche nach Entwürfen ihres Mannes, Mascha arbeitet in der Handweberei, wo an alten Bauernwebstühlen schön gemusterte Gebrauchstextilien entstehen. Die Wohnräume werden als museale Stätte für Heinrich Vo­gelers Kunst zugänglich gemacht. Im Haus im Schluh entste­hen Verlag und Handel für dessen Radierungen. Vogeler hatte den Töchtern die Druckplatten seiner Radierungen für ihren Lebensunterhalt überlassen.

1921

Das Haus wird bald zu einem kulturellen Treffpunkt, und setzt auch damit die Tradition des früheren Barkenhoffs fort. Marthas große Gastfreundschaft und ihre zahlreichen Kontakte machen das offene Haus zu einer „zweiten Heimat“ für Künstlerinnen und Künstler, Schriftsteller und Kunst­handwerker. So war die Malerin Lisel Oppel gleich zu Anfang mit in den Schluh gezogen. Weitere Künstler wie Alfred Kollmar, Tet­jus Tügel, Werner Rhode, Alfred Lichtenford, Richard Oelze, Helmuth Heinken u.v. a. werden sich im Schluh aufhalten und auch dort leben. Das Haus im Schluh wird ein begehrter Ausbildungsplatz für künstlerisch begabte junge Frauen und Lehrstelle für Mädchen aus der Umgebung Worpswedes, die hier in Hauswirtschaft und Weben ausgebildet wurden.

1923

Jan Jürgen, Heinrich Vogelers Sohn aus der zweiten Ehe mit Sonja Marchlewska, wird in am 9. Oktober, Marthas Geburtstag, in Moskau geboren.

1925

Im August und September betreibt Martha das Kaffee Worpswede auf Norderney. In den Räumen werden neben Kaffee und Kuchen vor allem Kunst und Kunsthandwerk verkauft. Leider war dieses Projekt, wie auch andere derartige Versuche wirtschaftlich nicht erfolgreich und nur von kurzer Dauer.

1926

Das Ehepaar Vogeler wird am 30. Januar in Berlin-Charlottenburg gerichtlich geschieden. Heinrich Vogeler heiratet im gleichen Jahr Sonja Marchlewska.

1930

Heinrich Vogeler hält sich zum letzten Male in Worpswede auf. 1931 emigriert er mit Sonja und Jan nach Moskau und ist fortan Sowjetbürger.

1934

Der Kunsthistoriker Hans-Herman Rief (1909–2009) aus Dithmarschen kommt auf der Suche nach Bildern von Paula Modersohn-Becker erstmalig nach Worpswede. Er ist seitdem häufig zu Gast im Schluh. Martha bittet ihn, mit den Dokumenten aus dem Nachlass Heinrich Vogelers ein Archiv zu erstellen.

1937

Martha Vogeler beantragt am 10. Juli die Aufnahmen in die NSDAP. Im April 1942 wird sie aus der NSDAP und aus der NS-Frauenschaft auf Beschluss des Gaugerichtes Osthannover ausgeschlossen.

1945 legt Martha Vogeler in einem Schreiben vom 23. Okto­ber an den Landrat des Kreises Osterholz dar, dass sie wegen ihrer Nähe zur Internationalen Friedensliga und wegen der Einstellung Heinrich Vogelers als Kommunist von der Gestapo mit Misstrauen beobachtet und bespitzelt wurde. Sie berichtet über Hausdurchsuchungen durch die Gestapo und über die Konfiszierung von 50 Handzeichnungen Vogelers. Sie fühlte sich 1937 gezwungen, der NSDAP beizutreten. Der Webereibetrieb entwickelte sich in diesen Jahren gut, da die nationalsozialistische Kulturdoktrin das Handwerk fördert. Besonders die Gobelinmanufaktur von Bettina und Walter Müller bekommt anspruchsvolle Staatsaufträge. Martha ist Mitglied der GEDOK und nimmt an Kunsthandwerksmessen teil. Sie erwirbt in Grasdorf ein zweites niedersächsisches Bauernhaus „Auf Abbruch“ für den Schluh. Das Haus wird 1938 eingeweiht und bezogen. Hier findet die Webwerkstatt ihren endgültigen Platz und es entstehen weitere Gästezimmer.

1942

Am 14. Juni stirbt Heinrich Vogeler in der Krankenstation des Kolchos Budjonny in der im Gebiet der Stadt Karaganda, Kasachstan. Eine verlässliche Nachricht über seinen Tod bekommt Martha jedoch erst nach Kriegsende durch einen Brief von Erich Weinert.

1945

Martha und die Familien ihrer Töchter Bettina und Mascha haben den Krieg und seine Schrecken überstanden: „es ist alles heil geblieben“ (MV, Karte an Dr. M. Landmann, 29.4.1946). Die Gästezimmer sind mit Flüchtlingen belegt. Mieke stirb im Exil in Mexico. Gustav Regler wird noch einige Male nach Worpswede kommen, um seine Lebenserinnerungen „Das Ohr des Malchus“ zu schreiben, in denen Mieke eine wichtige Rolle spielt.

1950

Im Schluh finden wieder kulturelle Veranstaltungen statt, so ein Abend mit Liedern von Schubert und Schumann, die Aufführung der Worpsweder Kinderoper „Die Geschichte von der Gänsemagd“ von Charlotte Niemann, ein Russischer Abend, an dem aus Werken von Dostojewski, Bock, Majakowski gelesen wird und russische Volkslieder vorgetragen werden. Der Schriftsteller und Kunstsammler Rolf Italiaander erzählt von seinen Besuchen bei Picasso, Matisse und Chagall.

1953

Die letzten Flüchtlinge haben das Haus verlassen. Wiedereröffnung der Pension mit einer „Ottilie-Hoffmann-Gaststätte“, die Martha als Angebot für die Pensionsgäste und für die Besucher Worpswedes im Haus im Schluh verstand. Die Weberei floriert erneut und weiterhin gut.

1959

In einem Interview sagt Martha: „Wenn ich nicht weben kann, bin ich nicht zufrieden. Das Weben beglückt mich und nimmt mir die Gedanken an meine Sorgen für unser Ganzes, für unseren Schluh“ (MV Lebenserinnerungen, 1959).

1961

Am 30. Mai stirbt Martha in ihrem Haus im Schluh; sie wird in der Diele des Webhauses aufgebahrt.
Martha Vogeler wird auf dem Worpsweder Friedhof beigesetzt. Ihr Grab befindet sich am Haupteingang gleich rechts hinter der Friedhofsmauer. Der Weg zum Grab führt über eine kleine Rasenfläche.

Pastor Günter Abramzik charakterisiert Martha auf der Beerdigung: „Oma Vogeler passte in keine Schablone, sie hatte einen wunderbaren Eigensinn, sie blieb sich treu bis zuletzt. Sie wurde Mittelpunkt eines Kreises von Malern und Dichtern. Wenn sie jemanden liebte und schätzte, war sie die Großzügigste, die ihren wirtschaftlichen Gewinn vergaß. Martha las regelmäßig in der Bibel und besonders gern die Bergpredigt. Sie träumte in einer Welt zu leben, in der es keine Kriege mehr geben soll, das war doch ein lebendiges Echo auf Heinrich Vogeler, so führte sie ein kleines politisches Dasein. Ihre Sorge ging über die Bewältigung des Tages ins Allgemeine, wenn sie sagte: ’Das muß anders werden, das darf man nicht hinnehmen, man muß protestieren […]“.

 

Auszüge aus

"Martha Vogeler 1879 - 1961",

Harro Jenss / Rena Noltenius

Hrsg. Freundeskreis Haus im Schluh Worpswede e.V.

Worpswede 2015

 

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